Sozialstaat, Krankenkassen und Geriatrie

Ärztliche Antworten auf Fragen, die das “Altern“ aufwirft, gibt Geriatrie – ein modernes Spezialfach der Medizin. Wo es Geriatrie aber nur als Zusatzfach, und keine eigenen Fachärzte für Geriatrie gibt, müssen Krankenkassen die zeitaufwendige geriatrische Tätigkeit auch nicht bezahlen. Man kann den billigeren Standpunkt vertreten, Geriatrie wäre im Honorar des Allgemeinmediziners oder des Facharztes inkludiert.

In den westlichen Sozialstaaten verlangen die demographischen Veränderungen aber nach Aktivitäten von Politik und Staat. Nach dem selben Prinzip wie Kommissionen etabliert werden, um einerseits Zeit zu gewinnen und andererseits fachlich fundierte Entscheidungsgrundlagen zu bekommen, so ging man auch an die Lösung des Problems der alternden Bevölkerung heran, anstatt notwendige grundlegend neue Denkan­sätze zu verfolgen, von denen die Betroffenen profitieren.

Es wurden Abteilungen mit der Bezeichnung Akutgeriatrie geschaffen, um vorerst zumindest im stationären Bereich Kostenersatz durch Krankenversicherungsträger zu bekommen. Das ist aber keine befriedigende Lösung für die Alten. Erstens müssen alte Menschen von zuhause weggebracht werden, um (für sie kostenlos) in den Genuss geriatrischer Behandlung zu kommen. Und zweitens sind derartige Abteilungen für Akutgeriatrie in Wahrheit nicht viel anders als Interne Abteilungen, wo betagte Patienten mit denselben Untersuchungen belastet werden wie in jedem anderen Aktuspital. (vgl. Spital „ja“ oder „nein“)

Anstatt die wahren Bedürfnisse der immer mehr werdenden alten und hochbetagten Menschen zu befriedigen – nämlich leistbare Versorgung, Betreuung und Pflege unter gleichzeitiger Anwendung von vernüftiger Geriatrie zu bieten, ob in den eigenen vier Wänden oder in angemessenen Institutionen – werden auch weiterhin Stationen für Akutgeriatrie eröffnet und gebaut. Damit werden noch mehr Ressourcen in High-Tech-Medizin investiert anstatt diese Gelder den Menschen zugute kommen zu lassen, die infolge unheilbarer Altersveränderungen (Altersschwäche, schmerzhafter Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen oder Demenz) auf geriatrische „Rund-um-Versorgung“ angewiesen sind, sich diese aber nicht leisten können. Um bloß Flüssigkeit in Form von Infusionen zugeführt zu bekommen – was natürlich auch zuhause möglich wäre und in jedem Pflegeheim durchzuführen ist – wird der Alte Mensch mit Rettung oder Krankentransport in ein Spital oder vielleicht auf eine Akutgeriatrie gebracht. Er wird also, weil er einfach zu wenig getrunken hat, aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und einmal mehr bricht die Medizinmaschinerie und der teuere Spitalsalltag auf den alten Menschen herein.

So wie Finanzmanager sich nicht nach den vielen Menschen umsehen, denen es finanziell schlecht geht, sondern eben diese mit „wissenschaftlich erforschten Finanzinstrumenten“ durch die hinlänglich bekannte weltweite Finanzkrise noch ärmer machen, so lassen ÄrztInnen die vielen Alten und Kranken unbeachtet, weil für sie nur Forschung, Statistiken, der Einsatz von „EBM = evidence based medicine“ und ihre Karriere zählt.

All das unterstützt die Politik, indem man das Tabuthema „Sterben und Tod“ – das natürliche Ende menschlichen Lebens – eben so wenig diskutiert wie man die „Schlussetappe“ im Leben eines Menschen ansprechen oder gar beleuchten möchte. Es scheint oportuner, sich dem allgemeinen Wegsehen von der Realität anzuschließen und sich selbst, wie auch der Gesellschaft vorzumachen, dass es richtig sei in (geriatrische) Forschung zu investieren und damit auf jenen Durchbruch hoffen zu können, der uns das leidige Thema „Sterben und Tod“ abnimmt. Wir geben uns lieber hin, über Alzheimer, Schlaganfall, tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc. nur zu forschen, als der Realität ins Auge zu blicken und diese „Alterskrankheiten“ als gegeben hinzunehmen, endlich die Weichen dafür richtig zu stellen und den Alten und Kranken zu helfen, mit Ihren Krankheiten zu leben oder – wegen dieser und mit diesen – auch sterben zu dürfen.

Wenn es nicht aufhört unangenehm zu sein die Tatsachen einzusehen und anzuerkennen, dass Alter auch Krankheit und Leid mit sich bringt und dass menschliches Leben endlich ist, wird unsere Gesellschaft nicht fähig sein wirkliche Antworten auf die bereits brennenden Fragen zu finden.

Ein Patientenverfügungsgesetz zu haben, das niemand (weder Ärzte noch Betroffene) kennt und das keine Rahmenbedingungen für Ärzte hat, zwingt Ärzte zu defensive medicine um sich vor Kollegen, vor Schadenersatz fordernden Anwälten und vor Richtern zu schützen.

Anstatt unsere Pflicht zu erfüllen, den immer mehr werdenden alternden Menschen zu geben, was sie tatsächlich brauchen – nämlich ihre Altersbeschwerden zu lindern, sie außerhalb von Spitälern geriatrisch zu begleiten und wenn es so weit ist, sie auch zuhause – abseits der Annonymität in Institutionen – sterben zu lassen, schieben wir die jetzt notwendige Hilfe auf die lange Bank.

Unsere heute Alten gehören nicht den Generationen der Technokratie, der alles belegenden Statistiken und des Internets an. Sie können nicht durch „Evidence based medicine“ beruhigt, vertröstet oder getäuscht werden. Ihr Zustand und ihr Leid ist realistisch und nicht virtuell. In ihrer Situation haben sie auch gar nichts von statistischen Zahlen und wissenschaftlichen Studien, schönen Worten oder netten Broschüren. Sie spüren und wissen, dass sie keine Zeit haben darauf zu warten, bis man ihnen erklärt, dass es sich bei der akutgeriatrischen Forschung leider um eine ebenso falsche Investition gehandelt hat wie die „Geldschöpfungstheorien“ unrichtig waren, die zur Finanzkrise geführt haben, aber ab jetzt wird alles anders und besser gemacht werden …

Tipp: Anstatt zu diskutieren ob Sterbehilfe zu legalisieren sei, sollten Medien, Politik und die Gesellschaft es wertschätzen, wenn Hausärzte bereit sind, Zeit zu investieren und die Verantwortung auf sich zu nehmen, den alten Mensch in seiner eigenen Wohnung mit der für seine Situation notwendigen medizinischen Therapie und mit ausreichender Schmerztherapie zu versorgen und es ihm ermöglichen – wenn er sich das wünscht – auch in seinem Zuhause sterben zu dürfen.

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