Patientenautonomie von dementen Personen

Die Pflegebedürftigkeit dementer Personen kann durchaus noch länger dauern als die Zeitspanne von durchschnittlich 8 – 9 Jahren bei nicht dementen Personen. „Die verbrachte Lebenszeit in Pflegebe­dürftigkeit ist bei Dementen deutlich höher als bei Pflegebedürftigen ohne Demenz.“[1]

Selbst wenn eine Patientenverfügung vorläge ist ja gar nicht garantiert, dass der einst niederge­schriebene Wille mit dem heutigen ident ist. Gehen wir also davon aus, dass der Demente gar keine Patientenverfügung gemacht hat, die Ärzten und Angehörigen eindeutig sagt, was der Patient wollte als er noch zur Gänze einsichts- und urteilsfähig war.

Im Allgemeinen ist es heute so, dass auch bei dementen Personen erst gar nicht versucht wird, den Patientenwillen zu erkunden. Sie werden ungefragt nach dem objektiven, medizinischen Sachverstand behandelt. Die einzig richtige und auch gesetzlich vorgesehene Vorgehensweise – nämlich gemäß der subjektiven Einstellung des Patienten (Patientenautonomie) zu behandeln oder Behandlung zu unterlassen – wird meist sowohl von Ärzten (und zu Beginn der Pflegebedürftigkeit auch von Ange­hörigen) völlig außer Acht gelassen.

So kommt es, dass Demente – ehe sie sterben „dürfen“ – mehr oder weniger lange leiden müssen. Wenn sie z.B. (auch nur mehr instinktiv) die Nahrungsaufnahme verweigern wird Angehörigen, Sach­waltern aber auch Gerichten die Einwilligung zum Setzen einer PEG-Sonde mit folgender Begründung abverlangt: „man kann den Men­schen ja nicht verhungern lassen“ oder sogar aggressiver fordernd „wollen Sie dass der Patient verhungert?“. Derartige Drohungen sind rasch ausgesprochen und errei­chen ihr Ziel meist auch effektiver als würden sich Ärzte die Zeit nehmen, Verantwortliche über vorhandene Richtlinien, Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und/oder Alternativen zum Legen einer PEG-Sonde aufzuklären, wie dies vom Gesetz eigentl­ich verlangt wird. Mittels PEG-Sonde ist es dann möglich jeden Menschen – auch gegen seinen Willen – zu ernähren.

Gleiches – nämlich den Patientenwillen nicht zu erkunden, bzw. Patientenautonomie zu ignorieren – geschieht aber auch, wenn sich der Demente sozial zurückzieht, wenn er keine Medikamente mehr schluckt, wenn er im Winter nicht adäquat gekleidet ins Freie geht, wenn er trotz Schwäche oder Gleichgewichtsstörung versucht selbst aufzustehen und dabei zu Sturz kommt etc. etc. Oft genug sieht man dann armselige Kreaturen völlig abgemagert aber immer noch in den Lehnstuhl „heraus­gesetzt“ (vielleicht auch mit Bauchgurt oder durch einengende Tischkante fixiert), oft auch zwangs­weise in Angebote an „sozialen Aktivitäten“ integriert. Nicht genug, dass ihr Geist derart verändert ist, sodass sie ihren Willen nicht mehr eindeutig und für jeden Gesunden verständlich äußern können, werden sie oft auch noch unter dem Vorwand einer vermeintlich depressiven (unzufriedenen) Stim­mung durch Psychopharmaka gedämpft.

Ich gebe gerne zu, dass es „verlockend“ ist, aufgrund von Ausbildung oder Wissen in patriarchalischer Weise zu glauben selbst besser als das Individuum zu wissen, was „gut oder richtig für den Patient“ ist. Doch so einfach darf man es sich – auch als Arzt mit jahrelanger Erfahrung – nicht machen. Denn nicht zwangsläufig decken sich medizinischer Sachverstand und subjektiver Patientenwille. Es kommt wohl nur selten vor, dass sich Menschen die Fortführung ihrer körperlichen und oder seelischen Leiden wünschen.

Wenn mich Gerichte zum Sachverständigen bestellen, um Gutachten darüber zu erstatten ob diese oder jene vorgeschlagene (medizinische) Maßnahme ausgeführt werden soll und zum Wohl des Be­troffenen (Besachwalterten) ist, pflege ich persön­lich nach einem Fragenkatalog vorzugehen, um den mutmaßlichen Patientenwillen zu erkunden. Die in dem Katalog vorkommenden Fragen beantworten sowohl der behandelnde Arzt, Pflegepersonal und auch Angehörige des Patienten. Aufgrund dieser Antworten schlage ich dem Gericht vor, welcher Weg höchstwahrscheinlich dem Patientenwillen entspricht und deshalb – Patientenautonomie respektierend – gegangen werden sollte.

Tipp: Diese Vorgehensweise ist keineswegs zeitaufwendig (weil strukturiert) und führt das Team zu einem konsensualen Ergebnis, das nicht eine einzige Person verantworten muss.

[1] Barmer GEK – Pflegereport 2010

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