Zustandsbilder

In der Geriatrie spreche ich gerne von Zustandsbildern und verstehe darunter Symptome, Krankheits­zeichen, Leiden, Beschwerden, Empfindungen, Verhal-tensweisen, Störfaktoren oder sonstige „Kleinig­keiten“ die Patienten belasten und das Zusammenleben mit Angehörigen und Pflegepersonen erschweren, stören und manchmal sogar unmöglich machen.

Diese Komplexität ist auch der Grund, weshalb Patienten und Angehörige oft nicht genau sagen können, „wo der Schuh drückt“. Wie in anderen zwischen-menschlichen Beziehungen kann sich Unausgesprochenes aber aufstauen, irgendwann einmal plötzlich zum Ausbruch kommen und dann nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten.

Die folgende Auflistung will helfen präzise Formulierungen für Zustandsbilder zu finden, um sie dem Arzt mitzuteilen oder sie auch nur zu benennen, um darüber sprechen zu können.

Hier sind einige Zustandsbilder gelistet, die man in der Geriatrie häufig antrifft.

Zustandsbilder des geriatrischen Patienten (P.)

  • P. ist nicht mehr (ganz) selbstständig
  • P. ist nicht mehr ganz verlässlich
  • P. ist vergesslich
  • P. fühlt sich verfolgt/bestohlen
  • P. ist verwirrt
  • P. verlangt Mitleid
  • P. fordert rücksichtslos
  • P. ist ungerecht, ist beleidigend
  • P. ist herrschsüchtig
  • P. will immer jemanden um sich haben
  • P. übt moralischen Druck aus
  • P. hat keine Interessen mehr
  • P. ist starrköpfig
  • P. verwendet Hilfsmittel aus Eitelkeit nicht (IKP, Hörgerät, Stock)
  • P. verlangt nicht nach Hilfe
  • P. ist zu wenig aktiv, antriebslos
  • P. legt keinen Wert mehr auf Äußeres (Kleider)
  • P. stellt sich in den Mittelpunkt
  • P. nützt seine Krankheit aus
  • P. ist motorisch unruhig (Wandertrieb)
  • P. ist seelisch-geistig unruhig
  • P. ist aggressiv
  • P. schläft zu wenig / zu kurz
  • P. fragt immer dasselbe
  • kommuniziert mit Angehörigen nur über stereotype Phrasen
  • P. ist pessimistisch
  • P. ist depressiv
  • P. ist traurig
  • P. ist ängstlich
  • hat keinen Lebenswillen mehr
  • P. schläft zu viel
  • P. leidet Schmerzen
  • P. ist (noch nicht) bettlägerig
  • P. leidet unter Gefühlen wie: wird nicht mehr gebraucht,
    kann nichts mehr tun, ist zunehmend hilfsbedürftig
  • P. will zuhause versorgt werden
  • P. will Angehörigen nicht zur Last fallen
  • P. asozialisiert sich – igelt sich ein
  • P. zieht sich immer mehr zurück
  • P. trinkt zu wenig

Zustandsbilder von Angehörigen (A.)

  • A. hat eigene Probleme (gesundheitlich, familiär, beruflich)
  • A. ist berufstätig;
    kann sich bei der Arbeit nicht dauernd stören lassen
  • A. will eigene Familie nicht vernachlässigen
  • A. kann d. Pat. nicht überzeugen
  • A. ist von Gewissensbissen geplagt
  • A. hat selbst finanzielle Sorgen
  • A. kann Betreuungsaufwand nicht bezahlen
  • A. möchte Pat. nicht ins Pflegeheim geben
  • A. möchte für Pat. das Beste
  • Sorge um P. wird zum Lebensinhalt des A.
  • A. will nicht angeherrscht werden
  • A. will nicht, dass Pat. leidet
  • A. möchte dem P. alles recht machen
  • A. ist physisch u. psychisch überfordert
  • A. wird (vom P.) nicht um etwas gebeten, sondern es wird von ihm verlangt
  • P. lässt A. keinen persönlichen Freiraum mehr
  • A. wird ständig angerufen – wegen Auskunft oder Hilfe
  • A. weiß nicht ob Zustände gefährlich, harmlos od. vorübergehend sind
  • A. leidet an der Ungewissheit, die medizini­sche Entwicklungen nicht zu kennen
  • A. sah, dass Spitalsaufenthalte dem Gesamtzustand eher geschadet als genützt haben
  • A. ist durch den Pat. in der eigenen familiären Beziehung belastet
  • A. braucht praktische Tipps für Altenpflege (z. B. Hebetechnik, Produkte etc.)
  • A. möchte sich von der Betreuungsarbeit kurz erholen
  • A. braucht neben Betreuungsarbeit auch ein wenig Zeit für sich selbst
  • A. möchte beim P. mehr Aktivitäten erreichen, (Gehen, geistige Beschäftigung, soziale Treffen etc.)
  • Ohnmacht, nicht helfen zu können, belastet A.
  • A. will sich nicht vorwerfen müssen, beim Pat. etwas versäumt zu haben
  • A. möchte die Verantwortung für den Pat. mit jemandem teilen
  • einstige Autoritätsperson jetzt geistig u/o körperlich abgebaut zu sehen, macht betroffen
  • Für Vater od. Mutter entscheiden zu müssen bedeutet für A. eine Rollenumkehr

Sowohl beim geriatrischen Patient wie auch bei Angehörigen sind Übergänge zwischen verschiede­nen Symptomen fließend; es können auch mehrere Symptome nebeneinander vorkommen (z.B. De­menz mit paranoider Komponente; vom Gehirn ausgehende, muskulär oder durch Schmerz bedingte Gangstörung).

Ursachen von Zustandsbildern

Die Ursachen von Zustandsbildern sind vielfältig. So wie der geriatrische Patient nicht nur an einer Krankheit leidet, sondern multimorbid ist, so sind es meist auch mehrere Ursachen gemeinsam, die ein Zustandsbild auslösen. Bei geriatrischen Patienten können, neben organischen Gründen, auch Umwelt-bedingungen Veränderungen bewirken. Oft genügt die Einweisung in ein Spital, dass es zu völliger Verwirrtheit von geriatrischen Patienten kommt. Neben dem organischen Grund für die Spitalseinweisung, der für sich alleine schon zu geisti­ger Minderleistung geführt haben kann, sieht das Zimmer plötzlich anders aus, der geriatrische Patient ist nicht mehr alleine sondern jemand Fremder ist mit ihm im Zimmer, das Bett ist höher als zuhause, der Lichtschalter befindet sich an anderer Stelle, vertraute Stimmen sind nicht mehr da usw. usf. Solche unscheinbar anmutende Umweltverän­derungen haben oft gravierende Folgen.

Häufig besteht auch eine Wechselwirkung zwischen Befinden oder der inneren Einstellung von Ange­hörigen oder Pflegepersonal (Gereiztheit, Zeitmangel, Stress, körperliche Überforderung, fehlende Regenerationsphasen etc.) und dem Verhalten oder dem Zustand des geriatrischen Patienten.

Es ist fast nie möglich ein Zustandsbild an einer einzigen Ursache festzumachen. Deshalb ist es bei alten Menschen auch nicht damit getan, ein paar Medikamente gegen bestimmte Krankheiten zu verschreiben. Aus demselben Grund gibt es aber auch kein Schema, nach welchem behandelt werden soll/könnte – wie das eben bei einer einzelnen, mit einer bestimmten Diagnose benannten Krankheit üblich ist. Das Wissen um die Komplexität von Symptomen bei alten Menschen und deren vielfältige Ursachen macht den Unterschied zu anderen Fächern in der Medizin.

Beim alten Mensch können sich Eigenschaften – je nach ursprünglichem Charakter von Personen – in ein Extrem etwickeln oder sie zeigen sich in der Form des gegenüber liegenden Pols. Ein stets sparsam gewesener Mensch kann im Alter geizig werden aber genauso gut verschwenderisch werden im Umgang mit Geld. Deshalb können auch konträre Symptome dieselbe Ursache haben. Der eine Patient lebt seine Probleme in Aggressivität oder Herrschsucht aus, während sich der andere in sich zurückzieht und sich vor der Umwelt verschließt.

Tipp: Es gibt kein Patentrezept, wie bestimmte Zustandsbilder entstehen, wie man mit ihnen umgeht und schon gar nicht wie man ihre negativen Auswirkungen beseitigt. Oft aber ist das Erkennen und das richtige Artikulieren von Problemen ein wichtiger Schritt, um damit besser umgehen zu können.

Wunsch oder Forderung an den Arzt

Fortschritte in der Medizin und in der Medizintechnik haben vieles möglich gemacht. Insbe­sondere gelingt es durch intensivmedizinische und operative Maßnahmen immer häufiger Menschen vor deren Ableben zu bewahren. Das ist die eine Seite der Medaillie. Auf der an­deren Seite ist mit dem Fortschritt aber auch verbunden, dass Menschen infolge „geglückter“ Rettungsmaßnahmen z.B. einen Schlaganfall zwar über­leben, für den Rest ihres Lebens aber nicht mehr denken oder sprechen können, gelähmt, bettlägerig und pflegebedürftig bleiben, das heißt völlig von anderen Menschen abhängig sind.

Heute ist es möglich, dass der menschliche Körper nur aufgrund von Maschinen oder Medikamenten am Leben gehalten wird, bis hin zum Extremfall, wo man sich in der Situation findet, vom Arzt das Abschalten der Maschinen zu verlangen.

Ich sehe dieser Entwicklung – das Sterben durch Medizintechnik gewaltsam zu verlängern – mit Sorge entgegen und ich fürchte gleichzeitig, dass sie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wohl aber kann sich der Einzelne davor bewahren, wenn er damit nicht einverstanden ist.

Von von niemandem kann – auch von einem Arzt darf nicht – verlangt werden, das Leben eines Men­schen zu beenden. Ebenso kann der Patient auch Beihilfe zum Selbstmord nicht verlangen. Nicht nur, weil beides strafbare Delikte sind, sondern weil jeder Arzt das Recht hat, ein solches Verlangen aus Gewissensgründen zurückzuweisen.

Wohl aber kann ein Patient von Ärzten fordern, eine bestimmte Behandlung(sart) zu unterlassen, indem er seine Zustimmung dazu verweigert. Kein Patient darf gegen seinen Willen zu einer Behandlung gezwungen werden. Dem Alkoholkranken kann zwangsweise ebenso wenig eine Entzugsbehandlung auferlegt werden wie einem Drogenabhängigen. Gleichermaßen darf ein Patient es auch verweigern, zur Behandlung in ein Spital eingeliefert zu werden. Ob einem Arzt daraus der Vorwurf des Unterlassens gemacht werden kann, ist noch nicht ausjudiziert.

Wer sich in die Behandlung eines Arztes begeben möchte, der bereit ist, die Spitalseinweisung auf aus­drücklichen Patientenwunsch zu unterlassen, dafür aber zuhause oder im Pflegeheim palliativmedizinisch zu behandeln, wird Ärzten einen solchen Wunsch rechtzeitig [nämlich zu einem Zeitpunkt, da die Entscheidung noch nicht unmittelbar ansteht und insbesondere da der Patient (noch) uneingeschränkt einsichts- und urteilsfähig ist], im voraus und schriftlich geben müssen. Denn das Erfüllen derartiger Wünsche ist sonst aus berufsethischer Sicht von ärztlicher Seite nicht zu verantworten. Solche Wünsche werden deshalb auch nicht respektiert werden können, wenn sie ad hoc und nur mündlich geäußert werden.

Es ist rechtlich wie auch ethisch höchst problematisch von Ärzten das Abschalten von Leben erhaltenden Maschinen zu verlangen. Wohl aber darf jeder Mensch verlangen, solche Maschinen an ihm erst gar nicht zum Einsatz zu bringen. Diese Entscheidung will aber sehr sorgfältig überlegt sein und der Entscheidungsfindungsprozess zu diesem Wunsch sollte unbedingt von einem Geriater begleitet werden. (vgl. Patientenverfügung)

Tipp: Wer zu wissen glaubt, wann Intensivmedizin bei ihm nicht mehr zum Einsatz kommen soll, möge sich mit einem Geriater beraten und frühzeitig eine Patientenverfügung errichten.

Patientenautonomie

Patientenautonomie (der Wille des Patienten) hat höchste Priorität, die der Arzt auch dann respektieren muss, wenn das vom Patient gewünschte Vorgehen oder Verhalten den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und der medizinischen Vernunft widerspricht. Denn der Patient hat das Recht behandelt zu werden, nicht der Arzt hat das Recht zu behandeln.

Behandlung ohne Einwilligung des Patienten

ist zwar strafbar, aber Ärzte wie Richter nehmen es mit der Einwilligung des Patienten zur Behandlung nicht so genau (gemeint ist nicht ärztliche Aufklärungspflicht vor operativen Eingriffen). Geriatrische Patienten werden sehr oft behandelt, obwohl gar nicht so eindeutig ist, dass der Patient die Behandlung möchte. Was wohl ist der Wille des Patienten wenn er sagt „ich möchte nicht (schon wieder) ins Spital“ oder „ich möchte (nicht in ein Pflegeheim sondern) zuhause sterben“.

Dass man es in der Geriatrie mit der Patientenautonomie nicht so genau nimmt, liegt wohl darin begrün­det, was Ärzte und Richter erwartet, wenn das Ergebnis des Respektierens oben beschriebener Patientenautonomie je­mandem nicht gefällt. Dann wird versucht dem Arzt eine Schuld „anzuhängen“. Deshalb möchte kein Arzt derartige Patientenwünsche erfüllen. Er wird vielleicht geklagt, er muss sich verantworten und wird wo­möglich auch verurteilt. Würde der Arzt aber nicht verurteilt, müsste der Richter sein Urteil verantworten und begründen, weshalb „niemand“ Schuld daran hat, dass der Mensch gestorben ist.
Es wird eher versucht den Arzt als „Schuldigen“ hinzustellen, als zu erkennen (und sich einzugestehen), von einer realitäsfernen Erwartungshaltung ausgegangen zu sein.

Ablehnen von Behandlung hat strenge gesetzliche Auflagen

Das Wirksamwerden der Verfügung von Patienten (z.B. moderne Medizinmaschinerie nicht über sich er­gehen lassen zu wollen) unterliegt sehr strengen gesetzlichen Auflagen (Patientenverfügungsgesetz). Jede einzelne Behandlung/Maßnahme muss beschrieben und von einem Arzt erklärt worden sein, um sie durch den Patient wirksam ablehnen zu können. Weil aber nicht in die Zukunft geschaut werden kann, bleibt immer viel Raum zu diskutieren, ob eine bestimmte Maßnahme in der Patientenverfügung enthal­ten ist oder nicht. Im Zweifelsfall wird behandelt, ohne zu fragen ob das Ergebnis (mit Sicherheit) ein besseres sein wird, als wenn die Untersuchung bzw. die bestimmte Maßnahme unterblieben, also dem Patient erspart geblieben wäre.

Dem Arzt wird sonst (von Kollegen, Angehörigen und Richtern) rasch vorgeworfen, etwas verabsäumt oder unterlassen zu haben. Der inzwischen meist schon verstorbene Patient wird dann aber nicht mehr zugunsten des Arztes aussagen können – nämlich dass der Arzt entsprechend dem Willen des Patienten gehandelt hat.

Der Patient sollte das Recht haben, sich ohne gesetzliche Hindernisse die Art der Behandlung auszu­suchen, nämlich versuchsweise kurativ oder anderenfalls palliativ. Was aber von menschenrechtlichen Grundsätzen bleibt, ist die unbefriedigende Situation, dass geriatrische Patienten bzw. Angehörige selbst zusehen müssen wie, wo und mit wem sich der Patientenwille umsetzen lässt.

Vorschlag zu einem Lösungsansatz

Ärzte sollten nur dann verpflichtet sein, behandeln zu müssen, wenn ein Behandlungserfolg im Sinne des Patienten garantiert werden kann. Kann der Behandlungserfolg nicht garantiert werden, sollte bei Ärzten das Unterlassen von Behandlungen und Maßnahmen nicht unter Strafe gestellt werden können.

Sterben – Tod

Wie wenig beforscht die letzte Lebensphase des Menschen ist, belegt schon die Tatsache, dass es keine allgemein gültige Nomenklatur gibt, die unterschiedliche Zustände und Zeiträume benennt.

Für jeden, der sich mit der Thematik rund um Tod und Sterben beschäftigt, ist es aber notwendig Ungleiches durch eigene Begriffe zu qualifizieren, um klar zu stellen worüber man spricht, bzw. auch einzugrenzen, womit man sich (selbst) gedanklich beschäftigt. Ich habe folgendes Schema:

Zunächst benennt man Lebensphasen (Säuglingsalter, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, oder Erwerbszeitraum). Mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beginnt eine Zeitspanne, für die es ebensowenig eine Bezeichnung gibt, wie man die Personen benennen kann, die sich in dieser Phase befinden (rüstige Pensionisten, junge Alte, gesunde Senioren etc.). Sie erstreckt sich bis zur letzten Etappe menschlichen Lebens, wo der Mensch durch Krankheit, Kraftverlust, deutlichen Abbau u/o Schmerz gezeichnet ist. Nennt man den Schlussteil der letzten Etappe des menschlichen Lebens Lebensende so gibt es am Lebensende noch die Zeitspanne des Sterbens. Dieser Zeitraum bildet den Übergang zwischen Leben (stabilen Organfunktionen) und Tod. Das Sterben wird durch ein nicht näher definierbares Ereignis eingeleitet, das gravierende (von sich aus irreversible) Auswirkungen auf den Organismus hat. Die Dauer des Sterbens ist nicht einheitlich und hängt wahrscheinlich auch von externen Faktoren (Temperatur, Lärm, Gespräche, Hautkontakte etc.) und von Emotionen ab, die der Sterbende empfindet/aufnimmt oder aussendet/abgibt. Die Phase des Sterbens endet mit dem Ableben des Menschen. Unmittelbar an das Ableben schließt der (ewig dauernde) Tod an. Die Auseinandersetzung mit der Frage ob und wie weit es Wechselwirkungen zwischen Umwelt und totem Organismus gibt, möchte ich Biologen, Philosophen und Theologen überlassen.

Gesellschaft

Nach 1945 geborene Generationen haben hierzulande in ihrem Umfeld allgegenwärtiges Sterben in jedem Lebensalter und täglichen Tod nicht mehr gesehen. Sie haben auch über Sterben von relativ jungen Menschen im Krieg – durch Hunger oder im Kampf gefallen – nur aus Erzählungen erfahren. Sie sind mit einer Medizin aufgewachsen, die keine Seuchen mehr zuließ, die schon Antibiotika einsetzte, die auch Hochbetagte erfolgreich operiert, die scheinbar wettmachen kann, dass der Einzelne seinen Körper vernachläßigt und sogar schädigt, die Herz-Lungen-Maschinen kennt und Beatmungsgeräte genauso einsetzt wie Dialyse, die täglich heroische Transplantationsmedizin bietet und …

Wohl aber kennen diese Generationen die Versorgungsdefizite bei den heute Alten. Europäische wie Amerikanische Untersuchungen haben gezeigt: Die Nachkriegsgeneration fürchtet am Lebensende an Schmerzen und Behinderungen leiden zu müssen, sie fürchtet sich vor Demenz und schließlich fürchtet sie die totale Abhängigkeit von anderen. Auch sind sie besorgt beim Sterben alleine gelassen zu sein (kein Angehöriger ist da, kein Arzt der Schmerzen lindern könnte). Es ist nur selten, dass Menschen das Ableben oder den Tod fürchten. Wenn Angst, dann haben sie Angst vor dem Sterben.

Es steht außer Zweifel, dass jeder Arzt bestimmte akut medizinische Maßnahmen ergreift, wenn er dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben eines Menschen rettet und absehbar ist, dass Hei­lung und/oder verbesserte Lebensqualität erreicht werden kann. Jeder Arzt muss aber auch die Entscheidung auf sich nehmen ob er zum Wohl und im Interesse des Patienten entweder Diagnostik (neuerlich Befunde erheben) und Therapie beginnt, oder ob er – aufgrund des Wissens, dass bei diesem Patienten die bestehende Multimorbidität nicht „wegbehandelt“ werden kann – zum Wohl und im Interesse des Patienten in palliativmedizinischem Sinn tätig wird. Nämlich unter beibehalten, reduzieren oder vielleicht sogar absetzen der etablierten Therapie eher in die Richtung behandelt, Angst und/oder Schmerzen zu lindern bzw. auszuschalten.

Tipp:
Jeder Mensch sollte sich rechtzeitig überlegen, welche Art Medizin er in der letzten Etappe seines Lebens an sich angewendet sehen möchte.
Jeder Arzt soll sich überlegen, ob er in der klinischen Forschung oder am Kranken- und Sterbebett von Patienten arbeiten möchte.

Veränderungen durch älterwerden

Altern ist – genau wie das Alter selbst – keine Krankheit, sondern ein ganz natürliches Geschehen im Leben eines Menschen. Altern ist ein Prozeß, der bei jedem Mensch unterschiedlich verläuft. Deshalb sollte man schon einen geriatrisch tätigen Arzt aufsuchen, sobald sich erste Zeichen des Alterns einstellen.

Langsam – ohne daß der Patient bewußt realisiert älter zu werden – kommt es zu Gewichtszunahme, die Beweglichkeit nimmt ab, gelegentlich treten sexuelle Probleme auf, der Geist wird träger, das Gedächtnis funktioniert nicht mehr ganz so wie früher, das Schlafbedürfnis ändert sich usw.

Oft sind Kopfschmerzen, innere Unruhe, Schwindelgefühle, allgemeines Unbehagen oder ähnliche Beschwerden Grund für ernste Besorgnis und man geht zu verschiedenen Ärzten. In Wirklichkeit aber steht bloß das harmlose Nachlassen der Sehkraft dahinter – der Patient braucht eine Lesebrille.

Zusätzlich kommen von außen Dinge auf den älter werdenden Mensch zu: die Pensionierung (naht); man kann mit dem technischen Fortschritt nicht mehr Schritt halten; der Freundes-/Bekanntenkreis wird kleiner weil man aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist und weil man mit zunehmendem Alter feststellen muß, daß immer mehr Gleichaltrige sterben.

Diese Zeichen oder Fingerzeige des Lebens werden vielleicht wahrgenommen aber nicht richtig gedeutet und auch nicht richtig verarbeitet. Nicht nur das betroffene Individuum selbst ignoriert die Veränderungen liebend gerne und betreibt Vogel-Strauss-Politik. Auch der Staat bzw. die Gesellschaft schauen weg, um die demographischen Veränderungen nicht zu sehen. So erkennt man keine geänderten Bedürfnisse mit denen man sich auseinander setzen muss und man braucht auch keine grundlegend neuen Lösungs­ansätze für die Versorgung der immer größer werdenden Zahl der pflegebedürftigen Menschen zu suchen. Geriatrie kennt die Probleme des Alters, spricht sie an und lehrt Patiententen und Angehörige damit umzugehen. Anstatt sich mit der Realität zu beschäftigen, ziehen es manche Menschen aber vor, gegen vieles und für manches die eine oder die andere Tablette zu schlucken. Jedenfalls glauben sie, das wäre die bequemere Lösung.

Erst die nächste, auch für den Laien merkliche und eindeutige organische Veränderung die ihn stört und die er „unsichtbar“ repariert haben möchte, führt ihn wieder zum Arzt – das Gehör hat nachgelassen. Selbstverständlich braucht es auch die Diagnose durch den HNO-Arzt und den Einsatz von technischen Hörgeräten – und gut, dass es sie gibt. Aber wenn die begleitenden geriatrischen Gespräche ausbleiben, wird das Hörgerät meist in eine Lade gelegt und wird nicht eingesetzt. Die Folgen aus diesem Manko werden sich er viel später zeigen, wenn sich die Hörkraft noch weiter verschlechtert hat, der alte Mensch sich schon zurückgezogen hat, und auch am Familienleben (infolge Kommunikationsmangel) keinen Anteil mehr nimmt. Dann aber wird sich der alte Mensch nicht mehr an das Hörgerät gewöhnen können.

Tipp: Anstatt zu eigenen Erklärungen und zu Selbstmedikation zu greifen, lieber einmal mehr den Geriater um Rat fragen.