Professur für Geriatrie

Kommentar zur Presseaussendung OTS 0029 vom 1.10.2012

Der frisch gebackene Professor für Geriatrie sagt: „Geriatrie ist keine Pflege-medizin, es ist eine Akutmedizin für Ältere, die darüber hinaus multidimen-sionale Aufgaben übernimmt“. Damit ist die Trennung in klinische Geriatrie und in „praktische Geriatrie“ (außerhalb von Spital und Pflegeheim angewandte Geriatrie) gerechtfertigt und notwendig. Bestehen doch markante Unterschiede zwischen klinischer Geriatrie und praktischer Geriatrie.

Praktische Geriatrie geht hinaus zum Patienten, passt sich an dessen Umgebung und an seine Angehörigen an, während klinische Geriatrie den Patient von seinem Zuhause wegholt und zur Behandlung in eine Institution bringen lässt.

Dieser einfach und banal klingende Unterschied hat aber gravierende Aus-wirkungen auf die eingesetzte Therapie und damit für den alten Menschen.

Mittels intensiv- und akutmedizinischen Maßnahmen alte, multimorbide Patien-ten aus speziellen medizinischen Situationen zu „erretten“, um sie dann als Pflegefälle auf Hilfe, Pflege und Betreuung angewiesen, wieder nach Hause oder ins Pflegeheim entlassen zu können – das ist nur mit klinischer Geriatrie möglich.

Möchte ein Patient in den eigenen vier Wänden inmitten seiner Familie, ohne Hektik und ohne High-Tech-Medizin, zwar mit ärztlicher Behandlung, angst- und schmerzfrei aber dennoch die Natur walten lassen, so ist das wiederum nur mit praktischer Geriatrie zu bewerkstelligen.

Meine Artikel in diesem Blog sind aus der Warte eines Arztes geschrieben, der nicht in klinischer Geriatrie forscht, lehrt und arbeitet, sondern der seit mehr als 30 Jahren praktische Geriatrie lebt. Schon vor 20 Jahren formulierte ich den Leitsatz für praktische Geriatrie: Geriatrie ist mehr als bloß das Behandeln von Krankheiten bei alten Menschen.

Tipp: Es liegt am Patient und an den Angehörigen rechtzeitig (d.h. noch bevor die Entscheidung zu treffen ist) zu besprechen und festzulegen ob klinische Geriatrie oder praktische Geriatrie zum Einsatz kommen soll.

regelmäßige Arztbesuche

Vorsorgemedizin schlägt über 40Jährigen vor, zumindest einmal pro Jahr zur Gesundenuntersuchung gehen, um eventuelle bösartige Entwicklungen möglichst frühzeitig zu entdecken und zu behandeln. Auch der geriatrische Patient sollte seinen Arzt regelmäßig – einmal pro Quartal – aufsuchen, selbst wenn (noch) keine merklichen „neuen“ gesundheitlichen Beschwerden aufgetreten sind, um u.a. folgendes zu kontrollieren:

EKG

Auch bei unter 65Jährigen können sich im EKG Veränderungen (z. B. Schenkelblockbilder) finden, die es später dann fast unmöglich machen zwischen „akut“ (neu aufgetreten) oder „harmlos“ (weil schon länger bestehend, ohne Beschwerden gemacht zu haben) zu unterscheiden. Weiß man aber, wie lange derartige (stumme) Veränderungen schon bestehen, so hat das ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den Verlauf und die Therapie. Deshalb sollte jeder geriatrische Patient ein aktuelles Vergleichs-EKG zur Verfügung zu haben.

Medikamente

Weil Medikamentenpackungen im allgemeinen den Bedarf für nur 1 Monat enthalten, ist es Usus, dass Ärzte auf Wunsch des Patienten Medikamente weiterverschreiben, solange der Patient keine Änderung in seinem Gesundheitszustand meldet. Beim Besuch – alle 3 Monate – beurteilt der Arzt auch die richtige Einnahme von Medikamenten, er erhebt routinemäßig Befunde, er findet heraus ob Tabletten (noch) wirken, die Dosis geändert werden sollte, oder eine Therapieanpassung bzw. –änderung vorzunehmen ist. (vgl. zu viele Medikamente)

Wegweiser

Regelmäßige ärztliche Betreuung ist auch Voraussetzung, wenn Patient oder Angehörige mit Hilfe des Geriaters den Weg durch die vielfältig gewordene Medizin finden wollen. Es ist nämlich nicht immer einfach zu wissen, mit welchen Beschwerden man zu welchem Fachhart gehört (vgl. Beschwerden gP; G Wegweiser)

Ein Beispiel soll zeigen, was damit gemeint ist. Ob „Leere im Kopf“, Ohrensausen, Schwindel oder Gangunsicherheit nun zum Augenarzt gehören, durch Blutdruckschwankungen bedingt sind, im EKG zu suchen sind, am Flüssigkeitsmangel liegen, eine Anämie dafür verantwortlich ist, oder andere Ursachen haben, will vorweg beurteilt werden. Ärzte, die ihre Patienten von regel­mäßigen Besuchen her kennen, werden schon von vornherein einige Ursachen ausschließen können und ihnen einen Irrgang durch medizinische Stationen ersparen. (vgl. „Wegweiser“)

Akute Erkrankung

In der Geriatrie ist es wichtig zu unterscheiden, ob ein Patient tatsächlich ins Spital muss, oder ob es verantwortbar ist, ihn zuhause oder im Pflegeheim zu behandeln.
Handelt es sich um einen Ernstfall der eine Spitalseinweisung erfordert, was der ständig betreuende Geriater rasch erkennt, dann schickt er den Patient nicht als unbeschriebenes Blatt ins Spital, sondern er gibt kompetente, umfassende und medizinisch relevante Information für die dort behandelnden Ärzte mit. Für Patient und Angehörige wiederum ist es wichtig vor der Spitalseinweisung zu erfahren, was Akutmedizin bringen kann, oder was sie mit dem Patient ”vorhat”. Das erklärt der Geriater in verständlicher Sprache, weil zwischen Arzt und Patient bzw. zwischen Arzt und Angehörigen auch schon zuvor ein regelmäßiger Kontakt bestanden hat.

Wichtige Veränderungen rechtzeitig registrieren, interpretieren und wenn nötig behandeln

Manchmal erklären sich Laien ein „sich Zurückziehen“ des geriatrischen Patienten mit ihnen plausibel erscheinende Begründungen für wie etwa: „das Gehör ist halt schlechter geworden“, oder „weil gleichaltrige Freunde und Bekannte „wegsterben“ usw. In Wahrheit aber können das wichtige Symptome sein, die man behandeln kann, die unbehandelt aber zu einer fortschreitenden sozialen Vereinsamung führen. Viele frühzeitig bereits erkennbare Anzeichen für psychische oder geistige Veränderungen fallen dem Laien zunächst nicht einmal auf.
Oft zeigen sich markante Symptome schon lange bevor der Patient selbst oder dessen Umwelt die Veränderungen wahrnimmt. Solche Anzeichen erkennt der Geriater sofort, wenn er seinen Patient regelmäßig sieht. Zum Beispiel kann der Arzt mit einigen gezielten Fragen aufdecken, ob hier eine Depression beginnt, ob das erste Anzeichen von Nachlassen der Gehirnleistung sind oder ob es um ein „sich Zurückziehen“ geht. Es macht eben einen Unterschied, ob relevante Wesensveränderungen vorliegen auf die näher einzugehen ist, um weitere Folgen hintan zu halten, oder ob es sich bloß um eine vorübergehende, veränderte Stimmungslage im Rahmen der Norm handelt oder ob der geriatrische Patient geistige Veränderungen wegenFlüssigkeitsmangel zeigt, weil er vielleicht nur zu wenig getrunken hat.

Tipp: Ab dem Alter von ca. 65 Jahren sollte jeder einmal im Quartal zum Geriater gehen. In welchen Abständen ein „Pflegefall“ zu visitieren ist, entscheidet der Geriater für jeden Patient individuell.

Angehörige fragen sich: „was sollen wir tun?“

Wie sollen wir den Pflegefall versorgen (lassen) – Daheim oder im Alten- bzw. Pflegeheim, kann ihm das Spital (noch) nützen oder helfen?

Diese Frage stellt sich, weil Dinge nicht präzise beschrieben werden. Dabei ist es nicht Unvermögen zu differenzieren, sondern unterschiedliche Begriffe und Fakten werden oft vermengt.

Abgesehen von der fast immer bestehenden Komplexität der Ursachen, sieht sich der Laie auf einer Gratwanderung zwischen dem Wunschgedanken der Heilbarkeit und der verheißungsvollen Vorahnung was dem dementen oder pflegebedürftigen Alten – und damit auch der Familie – noch bevorsteht. Es gelingt Angehörigen ja meist nicht einmal die Realität einzuschätzen oder zu Kenntnis zu nehmen. Und noch viel weniger ist es dem Laien möglich zukünftige Entwicklungen abzusehen.

Hier ein Beispiel für unterschiedliche Begriffe: Beim geistig veränderten Patient ist für Laien die Grenze zwischen „Beaufsichtigung“ und „Betreuung“ meist nicht erkennbar. Angehörige sagen oft, dass der Patient „nur“ Zuwendung oder Zuneigung braucht, oder dass man sich mit dem Patienten beschäftigen müsste. Wenn aber die Notwendigkeit der Beaufsichtigung besteht, wird sich diese nicht ersetzen lassen. Manche Angehörige wissen selbst (oft sogar aus bisheriger eigener Erfahrung), dass es in Wirklichkeit um die mühsame, zermürbende und nervenaufreibende Aufgabe geht, den geistig veränderten Patient vor Selbstgefährdung und oder vor Fremdgefährdung zu schützen (er lässt z. B. das Gas offen, verlässt das Haus und findet nicht mehr zurück, wichtige Dinge werden verlegt oder weggeworfen, er geht unadäquat gekleidet auf die Straße … usw. usf.). Hier ist ständige Beaufsichtigung notwendig, die ein ganz anderes Ausmaß an Personaleinsatz verlangt, als nur Betreuung.

Nicht selten kommen Angehörige zum Geriater, beschreiben eine Situation und wollen dann im Rahmen von Diskussionen noch Recht behalten was ihre eigene (vielleicht ergoogelte) „Diagnose“ anlangt. Es führt aber nicht weiter, wenn sie dem Arzt erklären: das ist keine paranoide Färbung; oder ist das ein Alzheimer; vielleicht auch: dieses Medikament hat er schon einmal bekommen, und es hat nicht geholfen; oder: er war so gut eingestellt, bevor …. Medizinische Diskussionen zwischen Laien und Fachmann bleiben meist fruchtlos. Der mündige Patient oder Angehörige erhält das Attribut „mündig“, weil man ihnen zumuten und von ihnen verlangen darf, ihren Anteil am medizinischen Geschehen zu leisten.

Um den Zustand eines Betroffenen richtig zu beurteilen, sollte man sich schon beim Formulieren der sich darstellenden Problematik(en) Gedanken machen, und man sollte „das Kind beim Namen nennen“. Eine vordringlich zu beantwortende Frage lautet: Ist der ältere Mensch noch SELBSTSTÄNDIG, sodass er alleine in seiner Wohnung oder im Appartement eines Seniorenheimes wohnen kann, oder ist er UNSELBSTSTÄNDIG und muss vielleicht rund um die Uhr mit 24-h-Betreuung zuhause, in einer B-Station oder in einem Pflegeheim versorgt werden?

Hierauf eine Antwort zu finden ist gar nicht so schwer: Als selbstständiger geriatrischer Patient ist einzustufen, wer ohne fremde Hilfe die Bedürfnisse seines täglichen Lebens erfüllen kann. Der selbst­ständige geriatrische Patient muss aber den Haushalt (Einkaufen, Kochen und Geschirrwaschen, Wohnungsreinigung, Heizung und Wäschepflege) nicht selbstständig besorgen können, denn die hierfür notwendigen Hilfen sind zeitlich planbar und können deshalb zB auch zugekauft werden. Es kann zwar vorkommen, dass ein alter, selbständiger Mensch auch gelegentlicher Hilfestellung bedarf – zum Beispiel weil er kurzzeitig (über eine absehbare Zeitspanne hinweg) akut erkrankt ist. Ebenso ist es möglich, dass jemand zu bestimmten Zeiten Hilfe braucht – wenn er zum Beispiel nicht alleine vom Bett in den Rollstuhl kann, sich in der Wohnung mittels Rollstuhl aber überall hinbewegen kann. In beiden Fällen ist die benötigte Hilfe kalkulierbar.

Lässt sich im voraus aber nicht bestimmen wann (z. B. jeweils bei Verrichtung der Notdurft, oder beim Zurückholen eines Dementen der ziellos die Wohnung verlässt) und in welchem Ausmaß Hilfe benötigt wird, dann sind Aussagen wie, dass <jemand „ein bisschen“ Betreuung braucht> oder <„leicht pflegebedürftig“ sei>, nicht zulässig. Derart „verniedlichende“ Aussagen machen Angehörige meist nicht, weil sie die Situation verkennen, sondern um der in Wirklichkeit tragischen Dimension der Hilfsbe­dürftigkeit nicht ins Auge zu blicken. Auch Unselbständige selbst (geriatrische Patienten, die in Wahrheit rund um die Uhr zu versorgen sind), benützen Umschreibungen, aber mit anderer Absicht: sie wollen sich und/oder den Angehörigen ihre bereits vorhandenen Defizite nicht eingestehen.

Mit beschönenden Einstufungen (um der teueren Pflegeeinrichtung zu entgehen) ist aber niemandem geholfen. Erstens leidet der Betroffene, weil er zuhause oder im Appartement einer Senioreneinrichtung nicht das bekommen kann, was er eigentlich bräuchte. Zum zweiten führt das meist sehr rasch zur Unzufriedenheit der Angehörigen, weil der Betroffene offensichtlich unterversorgt ist, oder weil alle Hilfestellungen (z. B. Medikamenteneinnahme, Augeneintropfen etc.) als Sonderleistungen bezahlt werden müssen. Und zu guter letzt ist dies auch für Heimhilfeorganisationen und deren Personal oder für den Betreiber von Appartements unbefriedigend, weil selbst finanziell abzugeltende Sondereinsätze die unmöglich gewordene Personalplanung nicht aufwiegen können.

„Betreutes Wohnen“ deckt eine „Zwischensituation“ ab, wo der Senior zwar viel Hilfe, Betreuung, Zuwendung und „Ansprache“ braucht und auch bekommt, nicht aber von diplomiertem Pflegepersonal. Ebenso ist die ärztliche Betreuung in solchen Einrichtungen auf ein Ausmaß reduziert, wie dies für einen körperlich und geistig gesunden alternden Mensch ausreicht, nicht aber für einen geriatrischen Patient.

Weiß man um die Einweisungsdiagnosen Bescheid, unter welchen ältere Menschen ins Spital geschickt werden, und weshalb eben diese Patientengruppe sehr häufig eingewiesen wird und dann noch übergebührlich lange in Akutspitälern verweilt, so stellt sich heraus, dass der Grund meist darin liegt, dass diese Menschen entweder „nur“ Mobilitätshilfe im engeren Sinn brauchen, das heißt, dass sie sich in der Wohnung nicht selbstständig fortbewegen können, oder wegen sozialer Indikation im Spital sind. Auch die Frage, ob das Spital (noch) nützen oder helfen kann beantwortet sich damit schon selbst.

Tipp: Ist man mit sich selbst, mit dem geriatrischen Patient, mit dem Pflegepersonal und mit dem Auftrag an die Institution ehrlich, dann wird es in der für alle Beteiligten nicht einfachen Situation viel weniger Unmut geben.

Bedeutung der Praktiker

Unter Praktiker verstehe ich Ärzte, die außerhalb von Spitälern, ohne großen Untersuchungsaufwand den Großteil der bei ihren Patienten auftretenden Krankheiten diagnostizieren und behandeln. Ihr Wissen und ihre Erfahrung ermöglichen auch beim kleinen Rest der Krankheiten (nämlich bei jenen, die von Spezialisten oder in Spitälern behandelt werden müssen) ein Screening, das rasch zur richtigen Diagnose führt und gleichzeitig ökonomische Aspekte berücksichtigt.

Schon vor mehr als 40 Jahren ging Doz. R. Braun der Frage nach, weshalb Patienten in den USA und Mitteleuropa direkt zum Facharzt gingen, ohne zuvor den Allgemeinarzt aufzusuchen. Er beschrieb das Phänomen bei Erkrankungen von Kindern, bei den so genannten Frauenleiden sowie bei Gesundheits-störungen am Auge[1]. Braun begründete die direkte Konsultation der Fachärzte mit der fehlenden Monopolstellung des Allgemeinmediziners, wie sie damals im britischen Gesundheitsdienst üblich war.

Retrospektiv betrachtet erscheint mir der Grund – weshalb Patienten direkt zum Facharzt gingen – eher darin gelegen, dass Laien die genannten Gesundheits-veränderungen auch schon vor 40 Jahren (ohne Screening des Allgemeinmedi-ziners) den richtigen Fachgebieten zuordnen konnten. Der selbe Grund aber, nämlich dass Laien zu wissen glaubten, Symptome nach ihrer Wichtigkeit beurteilen oder einem medizinischen Fachgebiet zuordnen zu können, schwächte generell die Position der Allgemeinmediziner und damit die Bedeutung des Praktikers.

Im urbanen Bereich gibt es den „guten alten Hausarzt“ kaum mehr, der ohne viel Medizintechnik Diagnosen zu stellen vermag, Krankheiten aus den unter-schiedlichsten Fachgebieten behandelt und bereit ist die Verantwortung für sein medizinisches Handeln wie auch für etwaiges Zuwarten zu tragen. Gleichzeitig informieren alle Medien – von Printmedien bis zum Internet – über Gesundheit oder sie bringen zumindest regelmäßig Gesundheitsthemen. Das macht den Laien glauben, auch er selbst kennt medizinische Zusammenhänge oder Zugehörigkeiten. Unterstützt durch die eCard nimmt das „Selbst­zuweisen“ zu Fachärzten zu und verursacht übergebührliche Kosten für das Gesundheitswesen.

So erklärt sich unter anderem die wachsende Bedeutungslosigkeit der Allgemeinmediziner in den Augen der Laienbevölkerung. Auch durch die Berufsbezeichnung – wo es den Facharzt für Allgemeinmedizin gar nicht gibt – wird der „Arzt zweiter Klasse“ deutlich gemacht. Der aus seinen an sich wichtigen medizinischen Aufgaben verdrängte Allgemeinmediziner wurde dazu verpflich-tet, krankheits- und patientenoptimierte Behand­lungs- und Verschreibweise der Fachärzte in eine kommerzielle, dem Budget der Sozialversicherer angepasste Verschreibweise umzuwandeln. Der Arzt für Allgemeinmedizin darf zwar, wenn er möchte, noch ärztlich tätig sein, bezahlt wird er aber hauptsächlich für die Einhaltung der Ökonomie des Sozialversicherungswesens. (Anm.: Die Diskussion darüber, wie adäquat die Ausbildung der Allgemeinmediziner zur Erfüllung dieser neuen Aufgaben ist, würde den Rahmen dieses Artikels ebenso sprengen wie das Hinterfragen, wie gewichtig hierdurch möglich werdende Einsparungen im Gesundheitswesen sind.)

Tipp: Finanzielle Ressourcen des Gesundheitswesens könnten besser genützt werden, wenn man Voraussetzungen schafft, die es (insbesondere in der Geriatrie) ermöglichen wieder auf Leistungen von Praktiker zurückgreifen zu können.

Mutter-Sohn-Beziehung

Heute möchte ich zwei Beispiele für Mutter-Sohn-Beziehungen bringen. Beide Mütter waren zum Zeitpunkt, als sich die Geschichten zugetragen haben schon weit über 90 Jahre alt und die beiden Söhne waren auch schon jeweils kurz vor ihrer Pensionierung. Beide Söhne standen in der Öffentlichkeit und waren sehr angehsehene Persönlichkeiten.

Der eine wurde in seiner Mittagspause von seinem Chauffeur zur Mutter gefahren. Er betrat das Zimmer der Mutter und sein Selbstvertrauen schwand auf eine Höhe, dass er „aufrecht unter einem Teppich hätte durchgehen können“. Er sagte „Küss die Hand, Mama“, setzte sich meistens auf einen Sessel, war nicht sehr gesprächig und man konnte ihm ansehen und förmlich spüren, wie peinlich ihm die Situation war. Er war kaum imstande mit der Mutter zu sprechen. Einverstanden das waren Generationen, die zu ihren Eltern gelegentlich noch „Sie“ sagten und sie auch manchmal noch in der dritten Person angesprochen haben. Aber trotzdem – er saß wie ein kleiner Schuljunge vor der alten, ehrwürdigen Mutter, die ich – als ihr behandelnder Arzt – eigentlich als sehr freundlich und warmherzig erlebte. Als ich erfahren hatte, dass sie früher gerne gestickt hat, bat ich sie, für mich eine Handarbeit zu machen. Ich habe den bestickten Kleiderhaken heute noch und jedesmal wenn ich ihn (an)sehe, fällt mir die alte Dame ein, die ihn mir mit ihren zarten, durch Arthrosen deformierten Fingern gestickt hat, und mit welchem Funkeln in den Augen sie mir den Kleiderhaken übergeben hat. Ich war damals gut 20 Jahre jünger als der Sohn der Dame. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass dieser Sohn (der fast täglich im Fernsehen zu sehen war) mit größtem Respekt zu mir aufschaute, wie es mir gelang mit seiner Mutter „auf Augenhöhe“ zu kommunizieren.

Die zweite Geschichte: Er war selbst Vater von – wenn ich mich nicht irre – bereits fünf erwachsenen Kindern. Er war immer sehr betroffen, wenn ich ihm mitteilte, dass es der (schwer herzkranken) Mutter vorübergehend nicht sehr gut gehe. Als es der Mutter aber eines Tages nicht nur nicht sehr gut ging, sondern sich ihr Zustand deutlich verschlechterte, bat ich den Sohn (natürlich in Begleitung seiner Gattin) zu mir, um ihn auch auf die Möglichkeit vorzubereiten, dass es sein könnte, dass die über 90 Jährige Mutter das derzeitige Geschehen nicht überleben wird. Das ging ihm derart nahe, dass er einige Tage später – ganz plötzlich und unerwartet – an einem Herzinfarkt verstarb. Die Mutter lebte danach noch ca. 6 Monate.

Wir kennen alle die Situationen da Mütter ihre (meist) erstgeborenen und/oder einzigen Söhne in eine Beziehung verwickeln, die sich nicht unbedingt zum Vorteil der Söhne darstellt. Sie können Probleme mit ihren Kameraden entwickeln, als „Muttersöhnchen“ attributiert werden, Probleme bei der Partnerwahl haben, zwischen Gattin und „Schwiegermutter“ zermalmt werden usw. usf. Nun eine derartige Beziehung zeigt ihre Eigenheiten natürlich auch im Alter. Das wollte ich mit den beiden geschilderten Geschichten zeigen. Es gibt – und ich werde auch darüber schreiben – natürlich auch das Pendant bei Töchtern.

Tipp:     Bei allem Respekt und aller Ehre, die man den Eltern entgegenbringen soll und entgegenbringen muss, darf man aber nicht „vergessen“, sein eigenes Leben zu leben. Man hat sich selbst und seiner eigenen Familie gegenüber eine Verantwortung zu tragen, sodass jede ‚Investition’ (z. B. überlange und zu häufige Besuche, Füttern, überreden/überzeugen von alten Eltern) die nur viel Substanz kostet und in Wahrheit niemandem nützt dafür aber vielen nachhaltig schadet, logisch beleuchtet werden sollte (am besten mit dem Ehepartner, einem guten Freund oder mit dem Geriater diskutieren) und auf deren Notwendigkeit hinterfragt werden soll.